Vor 80 Jahren: Verbrechen von Katyń (2024)

Am 17. September 1939 marschierte die Rote Armee, das Heer Sowjetrusslands, auf der Grundlage des sog. Interner Link: Hitler-Stalin-Paktes, in Ostpolen ein und internierte in der Folge rund 250.000 polnische Kriegsgefangene. Die Rote Armee überließ diese Gefangenen, entgegen dem internationalen Kriegsrecht, dem Interner Link: sowjetischen Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, NKWD (russisch: Narodnij Komissariat Wnutrennych Del). Das NKWD sortierte alle höheren Offiziere, Angehörige der polnischen Staatspolizei sowie Armeereservisten höherer Gesellschaftsschichten, Gutsbesitzer, Unternehmer oder Beamte unter den Kriegsgefangenen aus.

Systematische Ermordung

Am 3. April 1940 begannen Einheiten des NKWD mit der systematischen Ermordung der Offiziere und der Angehörigen anderer Eliten. Die Ermordung ging auf die Initiative des damaligen NKWD-Chefs Lawrenti Beria zurück. Einen Monat zuvor hatte Beria dem Politbüro, dem Führungsgremium der Sowjetunion, ein Schreiben zukommen lassen. Darin schlug er die geheime Erschießung von mehr als 25.000 Kriegsgefangenen, zum Großteil aus Polen stammend, ohne jeden Prozess vor. Diese Personen seien "erklärte und hoffnungslose Feinde der Sowjetmacht", schrieb Beria. Das Politbüro mit Josef Stalin an der Spitze befürwortete den Vorschlag am 5. März des Jahres schriftlich.

Dem Massenmord fielen innerhalb der darauffolgenden sechs Wochen knapp 22.000 Polen zum Opfer. Sie wurden größtenteils durch Genickschüsse ermordet und ihre Leichen in zuvor ausgehobenen Massengräbern verscharrt. Dabei wurden mehr als 4.000 Gefangene im Wald von Katyń nahe der Stadt Smolensk (heute Russland) ermordet, alle anderen an mindestens vier weiteren Orten, darunter in Pjatichatki nahe der ostukrainischen Stadt Charkow und in Kuropaty bei Minsk. Die NKWD-Kommandanten der einzelnen Kriegsgefangenenlager ließen alle Personalakten der Ermordeten vernichten.

Gegenseitige Schuldzuweisung

Katyń ist vor allem deshalb zum Synonym des gesamten Verbrechens geworden, weil es der erste und zunächst einzige Ort war, an dem die verscharrten Leichen im Jahr 1943 von der deutschen Wehrmacht entdeckt wurden. Der Massenmord wurde in der Folge Teil eines großen Propagandakampfes, den die Historikerin Claudia Weber als Externer Link: "Krieg um Kriegsverbrechen" bezeichnet. Die Nationalsozialisten ließen im Frühjahr 1943 eine internationale Gutachter-Kommission nach Katyń einfliegen. Die Rechtsmediziner stammten aus von Deutschland besetzten oder verbündeten Ländern. Sie datierten die Morde auf den Zeitraum März bis April 1940 – damit war die Täterschaft der Sowjetunion offenbar. Das Stalin-Regime setzte nach der Wiedereroberung der Gebiete im Herbst 1943 eine eigene Kommission ein und beschuldigte wiederum die Deutschen des Verbrechens.

Diese Lesart galt in der Sowjetunion sowie in Polen, wo der Massenmord nach 1945 weitgehend verschwiegen wurde - bis 1990 neues Archivmaterial veröffentlicht wurde. Michail Gorbatschow bezeichnete Katyń daraufhin als eines "der schwersten Verbrechen des Stalinismus" und räumte damit erstmals die Verantwortung der Sowjetunion ein. Bereits drei Jahre zuvor hatten beide Länder eine gemeinsame Historiker-Kommission berufen, um das Verbrechen aufzuklären. Erst in den 1990er Jahren wurden auch die anderen Massengräber freigelegt. 1992 hatte Russlands Präsident Boris Jelzin den Zugang zu detaillierten Dokumenten ermöglicht. Jedoch wurden Exhumierungen und Ermittlungsverfahren gegen Beteiligte 2004 durch die russische Militärstaatsanwaltschaft und 2009 durch das Oberste Gericht Russlands Interner Link: eingestellt.

Aufarbeitung dauert an

In Polen wird das Verbrechen von Katyń von der "Hauptkommission zur Fahndung von Verbrechen gegen die polnische Nation" als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen bewertet. Diese am staatlichen Institut für Nationales Gedenken (polnisch: Instytut Pamięci Narodowej, IPN) angesiedelte Kommission führt dazu seit 2004 ein entsprechendes Verfahren durch. Knapp 4.000 Opfer sind bis heute nicht namentlich identifiziert. Die "Kleine Kammer des Interner Link: Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte" (EGMR) sprach am 16. April 2012 in einem Urteil eine Rüge gegen die "unmenschliche" Behandlung von Opferangehörigen durch Russland aus. Diese legten daraufhin Berufungsklage ein und forderten eine schärfere Verurteilung Russlands, das ihnen die Einsicht in die Ermittlungsakten verwehrt hatte. Im Oktober 2013 wurde diese Klage jedoch von der Großen Kammer des EGMR abgewiesen - Russland habe nicht gegen die Grundrechte der Kläger verstoßen, die Hinterbliebenen hätten zudem kein Anrecht auf Schmerzensgeld.

Im nationalen Bewusstsein Polens ist der Massenmord von Katyń heute weiterhin präsent und belastet die polnisch-russischen Beziehungen. Befördert auch durch die Forschungs- und Fahndungsarbeit des IPN gilt der Massenmord weithin als das größte kommunistische Verbrechen gegen das polnische Volk. Der Massenmord ist in der polnischen und internationalen Erinnerungskultur stark verankert - obgleich es im Zweiten Weltkrieg ähnlich motivierte und von Deutschen durchgeführte Mordaktionen gab, bei denen Angehörige der polnischen Eliten zum Opfer fielen und deren Ausmaß größer war. So ermordeten die Nationalsozialisten etwa in der "Intelligenzaktion" im Zeitraum zwischen September und Jahresende 1939 gezielt über 50.000 Lehrer, Priester, Ärzte, Politiker und Militärs.

Den sowjetischen Massenmord arbeitete der polnische Regisseur Interner Link: Andrzej Wajda in seinem Oscar-nominierten Spielfilm "Katyń" (2007) auf. Vor zehn Jahren rückte Katyń aus traurigem Anlass abermals in den Fokus. Am 10. April 2010 stürzte ein Flugzeug mit einer polnischen Delegation, unter ihnen Staatspräsident Lech Kaczyński, am Flughafen von Smolensk ab, alle Passagiere starben. Die Delegation war unterwegs zu den Gedenkfeiern anlässlich des 70. Jahrestags des Verbrechens in Katyń. Wenige Tage zuvor hatten die Ministerpräsidenten Russlands und Polens, Wladimir Putin und Donald Tusk, in Katyń erstmals gemeinsam der Verbrechen gedacht.

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