Zweiter Weltkrieg Massaker von Katyn
Zwei hielten die Opfer fest, ein Dritter setzte den Kopfschuss
Um bei einer Sowjetisierung des Landes freie Hand zu haben, befahl Stalin 1940 die Ermordung von 25.000 polnischen Kriegsgefangenen. Drei weitere Mitglieder des Politbüros unterschrieben die Order – und starben hochgeehrt.
| Lesedauer: 5 Minuten
Von Sven Felix Kellerhoff
Leitender Redakteur Geschichte
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Das Morden begann am 3. April 1940. An diesem Mittwoch kam der erste Zug aus dem Lager für kriegsgefangene polnische Offiziere in Koselsk am kleinen Bahnhof Gnesdowo im Westen Russlands bei Smolensk an. Etwa zwei Tage hatten die Männer in den Zellen der Gefängniswaggons verbracht – teilweise saßen 20 in einer Zelle, die eigentlich für jeweils sechs ausgelegt waren.
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Über diese erste Zugfahrt hat sich kein Zeugnis eines Überlebenden erhalten. Man kann daher nur annehmen, dass am 3. April etwa das Gleiche geschah wie am 30. April 1940, als Stanislaw Swianiewicz, Hauptmann der Reserve der polnischen Armee und im Hauptberuf Professor der Wirtschaftswissenschaften an der (bis 1939 polnischen) Universität Wilna, an Bord war.
Er berichtete in seinen 1976 erschienenen Memoiren, was er weiter sah. An dem kleinen Bahnhof von Gnesdowo hielt der Zug; ein Kordon von Soldaten der sowjetischen Geheimpolizei NKWD sperrte die Station ab. Ein kleiner Bus mit weiß angemalten Scheiben fuhr rückwärts an die Tür eines der Waggons heran, und die NKWD-Begleiter im Zug drängten etwa 30 Männer hinein. Dann fuhr der Bus fort.
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Plötzlich hörte Swianiewicz seinen Namen. Ein Oberst des NKWD mit dem „rot-blauen Gesicht eines Schlächters“ teilte ihm mit, er werde nicht mit den anderen polnischen Offizieren weiterfahren. Der Professor wusste nicht, dass er im letzten Moment dem Tod von der Schippe gesprungen war und überleben durfte. Denn kein einziger der Kriegsgefangenen konnte je bezeugen, was mit jenen Männern geschah, die in die Busse stiegen. Dafür wurden drei Jahre später Tausende bereits stark verweste Leichen im Wald von Katyn entdeckt, 3,5 Kilometer westlich vom Bahnhof Gnesdowo.
Aus den Untersuchungen einer von Hitlers Chefpropagandisten Joseph Goebbels beauftragten, teilweise aber dennoch seriösen internationalen Untersuchungskommission konnte rekonstruiert werden: Ein Teil der insgesamt etwa 4420 gefundenen Leichen wurde im Keller eines Erholungsheims des NKWD getötet, der Rest direkt an den im Wald ausgehobenen Massengräbern.
Die Täter gingen offenbar immer gleich vor: Zwei NKWD-Männer hielten den Todeskandidaten fest, dann trat von hinten der Schütze heran, setzte seine deutsche Pistole des Modells Walther 7,65 Millimeter an den Hinterkopf und drückte ab. Anschließend fiel die Leiche in die Grube. Auf diese Weise dauerte jeder Mord weniger als eine Minute. Zwischen dem 3. April und dem 19. Mai 1940 starben so in Katyn und an mindestens fünf weiteren Orten etwa 22.000 polnische Offiziere und andere Angehörige der katholisch-nationalen Elite.
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Der Massenmord, für den symbolisch der Name des Wäldchens bei Smolensk steht, gehört zu den größten einzelnen Kriegsverbrechen von Stalins Regime, das insgesamt eine siebenstellige Zahl von Opfern produzierte. Es ist zugleich dasjenige, bei dem die Ähnlichkeiten zur Mordmaschinerie des nationalsozialistischen Dritten Reiches am größten waren.
Am 5. März 1940 hatte NKWD-Chef Lawrenti Beria die Aktennotiz Nr. 794/B an Josef Stalin geschickt. Darin wurde behauptet, die in der zweiten Septemberhälfte 1939 in sowjetische Kriegsgefangenschaft geratenen polnischen Offiziere seien „erklärte und hoffnungslose Feinde der Sowjetmacht“.
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Das war angesichts der traditionellen Feindschaft zwischen Polen und Russen sowie wegen des Überfalls der Roten Armee auf das von Hitlers Wehrmacht angegriffene Land am 17. September 1939 wahrscheinlich sogar richtig. Zumal das Offizierskorps sich wesentlich aus dem strikt antikommunistisch eingestellten Bürgertum rekrutierte.
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Beria schlug Stalin die umgehende Erschießung dieser Kriegsgefangenen vor – ohne Anklage, ohne gerichtliche Untersuchung und ohne Schuldspruch. Noch am gleichen Tag akzeptierte Stalin den Vorschlag und ließ drei Mitglieder des Politbüros der KPdSU ein bürokratisches Todesurteil für etwa 25.000 Menschen unterzeichnen.
Es handelte sich um Kliment Woroschilow, Wjatscheslaw Molotow und Anastas Mikojan – drei Männer, die noch Jahre nach Stalins Tod 1953 in höchsten Funktionen standen und alle hochgeehrt starben. Keiner von ihnen wurde je für das Verbrechen, das sie mit angeordnet hatten, zur Rechenschaft gezogen.
Stalins Kalkül bei dem Massenmord ist offenkundig: Er wollte die potenziellen Gegner einer Sowjetisierung Polens ausschalten, solange sie sich in seiner Gewalt befanden. Auch darin ähnelte das Vorgehen der Sowjetunion übrigens jenem des Dritten Reiches: Beide Mächte setzten es sich zum Ziel, die gesellschaftliche Elite Polens zu vernichten.
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Diesem Zweck diente auch der „Sonderauftrag Krakau“ der SS in der besetzten polnischen Stadt im November 1939, bei dem gezielt die verbliebene Professorenschaft der Universität festgenommen und ins KZ verschleppt wurde. Denn ohne potenzielle Anführer war der drohende Widerstand gegen die Besatzung weniger riskant. Ein mörderisches Kalkül.
Nachdem die Sowjetunion unter Michail Gorbatschow 1990 die Massaker eingeräumt hatte und polnischen Archäologen in Katyn und andernorts Untersuchungen erlaubte, folgte eine gut 20-jährige Phase, in der Russland relativ offen mit diesem Verbrechen umging. Anfang April 2010 besuchte der damalige Ministerpräsident Wladimir Putin sogar gemeinsam mit seinem polnischen Kollegen Donald Tusk zum 70. Jahrestag des Massenmordes die Gedenkstätte in Katyn.
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Wenige Tage später starb bei einem tragischen Flugzeugabsturz in Smolensk ein Großteil der polnischen Staatsführung einschließlich des Präsidenten Lech Kaczynski. Das Unglück, ausgelöst höchstwahrscheinlich durch schlechtes Wetter und menschliches Versagen, löste in Polen ein zweites Katyn-Trauma aus.
Doch auch Putin nutzte die Chance gemeinsamer Erinnerung nicht. Zehn Jahre nach Tusks Besuch schlägt der russische Autokrat einen völlig anderen Ton an, sobald es um den Zweiten Weltkrieg geht. Jede kritische Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus wird inzwischen unterbunden. Stattdessen werden in den Staatsmedien wieder die Heldenmythen beschworen, die schon 1945 bis 1989 die sowjetische Selbstdarstellung des „Großen Vaterländischen Krieges“ dominierten.
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