Olivier Blanchard: "Die Staaten sollten noch großzügiger sein als in der ersten Welle" (2024)

Corona verschärft die soziale Ungleichheit. Der Ökonom Olivier Blanchard fordert, generös Subventionen statt Kredite zu gewähren. Vermögen müsse umverteilt werden.

Interview: Marlies Uken und Lorenzo Barrio

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Olivier Blanchard lehrt am MassachusettsInstitute of Technology Volkswirtschaft und war Chefvolkswirt desInternationalen Währungsfonds. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat den Ökonomen vor Kurzem gebeten, Vorschläge für die großenHerausforderungen einer Post-Covid-Wirtschaft zu erarbeiten: Ungleichheit,Klimawandel und alternde Gesellschaften. Wir erreichen ihn per Videoschalte imHomeoffice, auf der Île de Ré.

ZEIT ONLINE: Herr Blanchard, Deutschland hat gerade einen umfassenden Lockdownbeschlossen, wie viele andere Staaten weltweit. Und der erste Lockdown ist nochnicht lange her. Glauben Sie, dass Unternehmen und Regierungen diesmal besservorbereitet sind?

Olivier Blanchard: Dieser zweite Lockdown hat ganz neue Dimensionen. Zwar wissen wir mehr überdas Virus, aber diesen rapiden Zuwachs an Infektionen hat niemandvorhergesehen. Wirtschaftlich betrachtet ist klar: Wir müssen die direkt undindirekt betroffenen Unternehmen und Arbeiterinnen und Arbeiter schützen.Europa hat das in der ersten Welle relativ gut gemacht. Deutschlands Geschenkan Europa, die Kurzarbeit, hat sich bewährt, umInsolvenzen zu verhindern.

Es kann aber durchaus sein, dass die Rettung derWirtschaft dieses Mal sogar noch teurer wird. Da beim ersten Mal die staatlicheUnterstützung vielerorts aus einer Mischung aus Subventionen und Krediten bestand,haben sich viele Firmen verschuldet. Passiert das noch einmal, steigt dieVerschuldung weiter – mit dem Risiko, dass die Unternehmen die Schulden irgendwannnicht mehr zurückzahlen können. Diesmal sollten die Staaten daher nochgroßzügiger sein als in der ersten Welle.

ZEIT ONLINE: Noch generöser? Schon jetzt summieren sich weltweit die Rettungsprogrammeauf Billionenbeträge.

Blanchard: Aber wir müssen realistisch sein: Die Unternehmen, die sich bereits imFrühjahr verschuldeten, brauchen weitere Unterstützung. Werden das Kredite sein, werden sie diese irgendwannnicht mehr bedienen können. Wir werden viele Bankrotterklärungen von an sich profitablen Unternehmen sehen. Deshalb brauchen wir weniger Kredite und mehrSubventionen.

Wir sollten die Menschen und Firmen nicht mit Schecks bis in die Ewigkeit versorgen.

ZEIT ONLINE: Können die europäischen Volkswirtschaften denn so große Defiziteverkraften?

Blanchard: Eindeutig ja! Unternehmen und Arbeiterinnen und Arbeitern jetzt die Hilfe zuverweigern, wäre aus sozialer und ökonomischer Perspektive desaströs. DieSorge ist ja, dass viele Unternehmen insolvent gehenkönnten. Deren Existenz müssen wir sichern. Haben wir denfinanzpolitischen Spielraum dafür? Ja. Das Risiko einer Schuldenkrise besteht,ist aber gering. Diese Wette müssen wir eingehen, weil die Alternative nochschlimmer wäre.

ZEIT ONLINE: Dann haben wir ja Glück, dass die Zentralbanken Regierungen mit günstigemGeld unterstützen.

Blanchard: Der Grund für die niedrigen Zinsraten sind nicht die Zentralbanken allein.Die Zinsen sind in weiten Teilen der Welt seit den Achtzigern gesunken. Letztendlichspiegelt das niedrige Niveau übermäßige Ersparnisse im Verhältnis zu Investitionen wider. Der von den Zentralbanken festgelegte Zins zeigt nur diese Realität. In den kommenden fünf, vielleicht sogar zehn Jahren wird sich womöglich am Zinsniveau wenig ändern. Diesen Zeitraum müssen wir jetzt ausnutzen.

In einer normalen Rezession können Insolvenzen sogar hilfreich sein, da so unproduktive Unternehmen vom Markt verschwinden.

ZEIT ONLINE: Regierungenweltweit kaufen Anteile von angeschlagenen Industrien, investieren inImpfstoffkonzerne, subventionieren Selbstständige und finanzieren Kurzarbeit.Ist das eigentlich noch Kapitalismus?

Blanchard: Die Interventionen sind ja zeitlich begrenzt, und müssen es auch sein. Die große Frage ist nur, wie langees noch dauert. Anfangs dachten wir, die Krise wäre Mitte 2021 überstanden.Mittlerweile bin ich pessimistischer, da die ersten Impfstoffe wohl nicht zu 100Prozent effektiv sein werden. Und solang das so ist, werden viele Menschen weiterhinbesorgt sein und zögern, einkaufen zu gehen. Und Firmen werden nur zögerlich investieren. Aber Ende 2021sollte der Abschluss der Covid-Ära absehbar sein. Bis dahin könnte die Kombination aus guten Impfstoffen und besseren Medikamenten die Infektion unter Kontrolle gebracht haben. Restaurants werden wieder öffnen, die Menschenwieder reisen, und auch die Arbeitslosenrate wird dann wieder sinken. Natürlichbesteht kein Zweifel: Wir sollten die Menschen und Firmen nicht mit Schecks bis in dieEwigkeit versorgen.

ZEIT ONLINE: In Deutschland hat sich der Staat an der Lufthansabeteiligt, viele andere Unternehmen aus anderen Branchen hoffen ebenfalls aufStaatshilfe. Welchen Branchen sollte der Staat helfen, welchen nicht?

Blanchard: Die Priorität ist, Arbeiterinnen und Arbeiter zu schützen. Insolvenzen sind aber janicht unbedingt schlecht. In einer normalen Rezession können Insolvenzen sogar hilfreich sein,da so unproduktive Unternehmen vom Markt verschwinden. Die jetzige Situationist jedoch anders, weil sich auch gesunde Unternehmen verschulden mussten, die einfachPech hatten, von der Pandemie besonders betroffen zu sein. Es wäre daher zumBeispiel falsch, der Gastronomie jetzt Hilfen zu verweigern. Ohne Hilfe könnte der gesamte Sektor bankrott gehen, nur um nach Covid von Grund auf neu aufgestellt werden zu müssen. Das ist weder menschlich noch wirtschaftlich sinnvoll.

Nehmen Sie dieAutobauer: Sie sollten in der Post-Covid-Ära keine größeren Probleme haben, daMenschen weiterhin Autos kaufen werden und sie wahrscheinlich die Corona-Krise ohne Hilfe überleben. Ganz anders ist es natürlich für dieAirlines: Ein Drittel ihrer Einnahmen stammt aus Business-Class-Flügen – und diese werden wahrscheinlich fürimmer niedriger sein. Wenn sie Hilfen erhalten, sollten diese ihnen helfen, ihr Geschäftsmodell zu ändern.

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